Der richtige Ort - Barbara Kaul

Barbara Kaul - Malerei, Zeichnungen, Plastiken, Gedichte, Kurzgeschichten
Direkt zum Seiteninhalt

Der richtige Ort


Trotz eines Termins musste Anna warten. Eine viertel Stunde? Gefühlt länger, da sie auf einem unerwartet unbequemen Stuhl in der Lounge eines sehr eleganten, extravaganten Friseur-Salons namens Figaro saß. Sie war das erste Mal hier. Der Inhaber, von dem es hieß, dass er ein Meister seines Fachs sei, nannte sich Amadeus, manchmal auch Mozart. Er trug sein Haar im Nacken als Zopf, mit einem schwarzen Schleifchen gebunden.

Schon oft hatte Anna wegen eines neuen Haarschnitts gelitten, ja, gelitten, weil er ihrer Meinung nach misslungen war. Sie also oft beim Falschen, an einem falschen Ort gewesen? Heute, aber, dachte sie, wird sein geschulter Blick mich typgerecht beraten und dank versierten Einsatzes seiner Schere verwandeln. Natürlich zum Besseren, Schöneren hin, auch dank eines formgebenden Gels. Amadeus könnte sehr begeistert von seinem Meisterwerk sein und mit Engelszungen beschreiben, dass es ihm mal wieder gelungen sei, meine Haarwirbel durch seine außergewöhnliche Schnitttechnik zu bändigen. Er, ein überaus freundlicher Mensch, wird mich sehr charmant anlächeln, es sich nicht nehmen lassen, meine nun durch die neue Frisur zauberhafte Aura zu bewundern und fest davon überzeugt sein, dass mein gesamtes Umfeld, sogar fremde Menschen, mich mit Komplimenten überschütten werden.
Anna  musste jetzt lächeln. Tagträume können soo schön sein.
 
Da sie weiterhin mit Warten beschäftigt war, hatte sie Zeit, alles, um sich herum wahrzunehmen. So, auch die anderen, sehr elegant und extravagant gekleideten Kundinnen. Passend zum Salon, trugen sie Perlenschmuck, teure Uhren, waren perfekt geschminkt, hatten die Fingernägel lackiert. Anna schwankte zwischen Be- und Verwunderung, dachte: Wo befinde ich mich? In einem Friseur-Salon, oder bin ich Gast auf der Hochzeit des Figaro? Ich bin eindeutig im Ersten, weil, wie immer, mit einem alten Pulli bekleidet, wegen der Haare, die trotz Umhangs ihren Weg auf schöne, neue Pullis finden. Auch bin ich weder gestylt noch geschmückt, denn bei mir muss es fast immer schnell gehen.

Plötzlich fühlte Anna sich unwohl, hatte das Gefühl, am falschen Ort, ja, geradezu deplatziert zu sein. Gehörte sie nicht hierher, nicht zu ihnen, ihrer Gesellschaftsschicht? Weil sie falsch gekleidet war, nicht geschminkt und geschmückt wie sie, die anderen? Bemerkten diese gar ihre Gefühle und Gedanken? Hatte sie doch den Eindruck, dass sie, die anderen, gerade deshalb an ihr vorbeisahen, sie nicht wahrnahmen. Doch, jetzt, gerade in diesem Moment, lächelte eine Dame sie an. Anna spürte Erleichterung. Allerdings war es eine Mitarbeiterin, die wissen wollte, ob sie gern Kaffee oder lieber ein Gläschen Sekt hätte. Sie nahm ein Glas Wasser, weil sie einen alten Pulli, der zufällig grau war, trug und dachte: Wennschon, dennschon, musste schmunzeln, hatte sie sich doch spontan so entschieden. Ganz bewusst. Ja, vielleicht etwas eigensinnig, trotzig. Warum sollte sie Sekt trinken, wenn ihr nicht danach war? Sich einfügen, um doch zu ihnen, ihrer Schicht zu gehören? Sie dachte: Wo ist eigentlich mein Ort, mit seinen Menschen, wo ich mich wohlfühle, frei, mich gern einfüge? Den des Salon-Figaro hatte Anna frei gewählt. Ganz bewusst, weil er ein Meister seines Fachs sein soll.

Plötzlich war ihr Unbehagen verflogen. Sie fühlte sich frei, wie ein Vogel, heiter und gelöst. Frei von negativen Denkmustern und dachte, dass alle Menschen, auch die anderen, wie sie gern genannt werden, frei sind in ihrem Denken, Handeln und Entscheidungen. Anna hatte sich heute für einen alten Pulli, für ein Glas Wasser entschieden. Beides nach ihrem Geschmack. Letzteres im wahrsten Sinne. Vielleicht war ihr morgen nach Eleganz und Sekt zumute.

Anna spürte ihre Veränderung auch körperlich, denn sie saß nun aufrecht und dachte: Aufrichtigkeit, Wahrheit, Freiheit. Sollte es so einfach sein? Eher spannungsreich und unbequem.
 
Jetzt lächelte Amadeus sie an. Endlich hatte er Zeit. War Anna bei ihm am richtigen Ort? Den für sie passenden Ort?

 
Zurück zum Seiteninhalt