Überraschung - Barbara Kaul

Barbara Kaul - Malerei, Zeichnungen, Plastiken, Gedichte, Kurzgeschichten
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Überraschung


»Hallo, meine Liebe. Ich habe eine Überraschung für euch. Sieh nur, was ich alles dabeihabe. Der Korb ist randvoll.« Mit diesen Worten begrüßte mich meine Schwiegermutter. Sie sagte, sie wolle ihrem schwer erkälteten Sohn einen Besuch abstatten. Meiner Meinung nach hat dieser am heutigen Sonntagnachmittag das Bedürfnis nach Ruhe und Entspannung und sich mit einem leichten Männerschnupfen auf das Sofa gelegt. Sollte sie ihn heute wie immer liebevoll Sohnemann nennen, wird er wie immer mit Chefin kontern. Meiner Meinung nach passt dieser Titel perfekt zu ihrer warmherzigen und resoluten Persönlichkeit.
 
Nun prasselte ein Wortschwall über mich herein. »Schätzchen, sieh nur, was ich alles zum Waffelbacken dabeihabe. Ernst wird freudig überrascht sein, wenn du für ihn und uns alle leckere Waffeln backen wirst. Ich weiß ja, dass er Überraschungen genauso liebt wie ich. Liebes, wenn es dazu noch Kirschkompott und Schlagsahne gäbe, würde er sich noch mehr freuen und schnell wieder gesund werden. Übrigens, der Opa lässt schön grüßen. Er wäre gern mitgekommen, doch gerade heute ist ein wichtiges Golfturnier, das er nicht absagen wollte.« Sie schüttelte den Kopf. »Dafür habe ich absolut kein Verständnis. Was könnte wichtiger sein als das eigene Kind?« Ich sah jetzt Ernst vor meinem geistigen Auge und dachte, Kind? »Schätzchen, warum können Männer nicht so empathisch sein wie wir Frauen? Die Gefühle anderer wahrzunehmen und entsprechend zu handeln, ist uns Frauen quasi in die Wiege gelegt. Ihre Kopflastigkeit bringt unser eins doch an den Rand der Verzweiflung. Oder? Ach, meine Gute, weißt du, meine Mutter konnte die weltbesten Waffeln backen. Ernst hat seine Oma und ihre Waffeln sehr geliebt. Mir ist das hausfrauliche Geschick nicht so gegeben, aber dir Kindchen. Du bist so patent wie meine Haushaltshilfe. Ernst ist sehr froh über deine Koch- und Back-Kunst. Es ist deshalb doch für dich ein Kinderspiel, schnell mal ein paar Waffeln zu backen. Nebenbei kannst du ja das Kirschkompott zubereiten. Na, und die Sahne ist fix aufgeschlagen. Ich habe jedenfalls von allem, was du brauchst, genug dabei.« Ich dachte: Ja, sie ist wirklich immer genauso großzügig und ebenso für Überraschungen zu haben wie Ernst. »Kindchen, ich freue mich sehr für meinen Sohnemann. Er ist immer ganz begeistert, wenn er von dir spricht. Wo sind denn eigentlich die Kinder? Die Jungs wahrscheinlich auf dem Sportplatz zum Fußballgucken. Sie werden sicherlich den Tisch decken, sobald sie wieder da sind. Liebes, du solltest unbedingt darauf achten, die Kinder frühzeitig an die Hausarbeit heranzuführen. Deine Schwiegerkinder in spe werden es dir danken. Ja, ja, die Kinder werden ja so schnell groß. Ach, wie die Zeit vergeht. Nun, Kaffee und Kakao koche ich selbstverständlich sehr gern für alle. Unser Nesthäkchen geht mir dabei sicher gern zur Hand. Wo steckt sie denn nur? So, ich gehe jetzt aber erst einmal zu meinem kranken Sohnemann, um ihm zu erzählen, dass du gleich mit dem Backen beginnen wirst. Ich sehe schon vor meinem geistigen Auge, wie er sich riesig darüber freuen wird. Liebes, warum sagst du denn gar nichts?«

Ich seufzte, lächelte und sagte dann: »Liebe Ernestine, ich …«

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