Mut zur Lücke - Barbara Kaul

Barbara Kaul - Malerei, Zeichnungen, Plastiken, Gedichte, Kurzgeschichten
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Mut zur Lücke


„Schön, dass ihr da seid. Herzlich willkommen, meine Lieben. Ich muss euch gleich von meinem letzten Wartezimmererlebnis berichten. Es war einfach großartig!“. Mit diesem Satz begrüßte uns Ernsts Mutter zu einem sonntäglichen Kaffeetrinken. Ihr Wunsch nach vollzähligem Erscheinen war seltsamerweise allen Befehl. Lag es an den köstlichen Torten und dem leckeren Gebäck? Die Männer meiner Familie waren sich in diesem Punkt einig. Ich dagegen war der Ansicht, dass es auch an ihrem herzlichen, manchmal impulsiven Wesen lag. Ernst hatte diese Eigenschaften, und genau diese liebe ich besonders an ihm, von ihr geerbt.
 
„Erni, mach nur langsam. Lass doch erstmal alle Platz nehmen“, mit diesen Worten beschwichtigte Ernsts Vater meine lebhafte Schwiegermutter. Dieser war ein Beispiel an Geduld, Ruhe und Gelassenheit. Er meinte, dass er sehr froh sei, dass auch ich diese Eigenschaften hätte und deshalb die perfekte Ergänzung zum lebhaften Naturell seines Sohnes sei. Das bekannte Sprichwort "Gegensätze ziehen sich an", hätte seiner Meinung nach seit jeher seine Berechtigung. Mein lieber Ernst war da ganz anderer Ansicht. „Gleich und gleich gesellt sich gerne“, war für ihn das Geheimnis einer gelungenen Beziehung, denn er würde besonders meine erfrischende Lebendigkeit lieben, wie er mich gerne wissen ließ. Ich mache allerdings immer wieder die Erfahrung, dass die Wahrheit, wie meistens irgendwo in der Mitte liegt.
 
Noch bevor wir den ersten Bissen vom ersten Tortenstück genießen konnten, war von meiner Schwiegermutter zu hören: „Also passt auf, meine Lieben. Ihr wisst ja, wie sehr ich die Gedichte von Goethe und Schiller liebe und sie sehr gerne bei jeder Gelegenheit rezitiere. Deshalb habe ich auch vorgestern im Wartezimmer meines Hausarztes, allen Patienten, mit Lyrik die Zeit auf angenehme Weise verkürzt. Ich hatte den Eindruck, dass alle, nun ja, bis auf einige Kulturbanausen davon sehr angetan waren und noch mehr hören …" „Mama, das hast du wirklich getan?“, wollte Ernst wissen. „Ja klar, selbstverständlich Sohnemann und gleich nach meinem Arztgespräch bin ich nochmals ins Wartezimmer gegangen und habe weiter rezitiert. Meine Faszination für Lyrik gebe ich einfach zu gerne an andere weiter.“ Ich hörte jetzt, wie unser jüngerer Sohn seinem älteren Bruder ganz leise zuflüsterte: „Wie peinlich war das denn. Zum Glück haben wir alle einen anderen Hausarzt.“ Und laut vernehmbar sagte er: „Schicksalsgemeinschaft Wartezimmer nenne ich das. Wenn du dabei bist, Oma, dann ist wenigstens immer was los. Finde ich echt supercool, dass du das machst. Wenn es so still im Wartezimmer ist, finde ich das irgendwie Mega peinlich. Zum Glück ist manchmal wenigstens das Geraschel der Zeitungen zu hören. Na ja, ich habe sowieso immer meine Knöpfe in den Ohren und höre Musik.“ Ich lächelte ihn an und sagte: „Ich verstehe dich gut. Es kann schon manchmal durch Stille eine angespannte Stimmung herrschen. Als sehr angenehm empfinde ich deshalb leise Musik im Wartezimmer.“ Jetzt meldete sich mein Schwiegervater zu Wort: „Ach ihr zwei seid einfach zu sensibel. Und ja, die jungen Leute von heute. Schauen immer nur mit gesenktem Kopf auf ihre Handys und verlernen so noch das Sprechen. Ich dagegen unterhalte mich immer sehr gerne mit anderen Leidensgenossen über diverse Krankheiten und habe so schon viel dazu gelernt. Eine lange Wartezeit macht mir deshalb nichts aus.“ Unsere Kleine entrüstet: „Aber Opa. Warten ist doch ganz schrecklich langweilig. Zum Glück sind Mami oder Papi immer bei mir. Wir spielen dann oder sie lesen mir vor. Aber manchmal lese ich ihnen auch etwas aus einem Bilderbuch vor. Da kann ich dann alles erfinden.“ Sie kicherte jetzt. „Wenn wir lange warten müssen, bist du, Mami, viel leiser und ruhiger, nicht so fröhlich wie zu Hause. Aber du Papi, du bist im Wartezimmer genauso wie immer.“ Unser Großer: „Ja, Papa, du bist immer Papa. Okay, fast immer. Mama, du bist da eher vielfältig unterwegs. Das kann manchmal sehr interessant sein“, und grinste mich jetzt an. „Ich bin jedenfalls im Wartezimmer immer extrem entspannt. Mir ist es egal, ob es still oder lärmig ist. Meistens daddele ich sowieso auf meinem Smartphone herum oder telefoniere. Ich glaube, ich bin da wie du Papa, oder?“ „Ja, grundsätzlich schon. Aber es kommt natürlich immer auf den Grund an, weshalb ich warte. Da kann ich schon auch mal angespannt sein. Auf mein Smartphone muss ich selbstverständlich hin und wieder schon sehen. Ist wegen meines Jobs wichtig. Jetzt aber mal was ganz anderes. Wisst ihr, ich habe ganz spontan eine prima Idee.“ Und schmunzelnd sagte er: „Zum nächsten Arztbesuch nehme ich meine Gitarre mit und werde die Schicksalsgemeinschaft Wartezimmer mit Spiel und Gesang erfreuen. Mama, ich glaube, in mancher Hinsicht bin ich dir doch ähnlich. Was meint ihr? Ist doch ’ne coole Sache! Falls Geld zusammenkommt, ist es natürlich für die Kaffeekasse.“ Unsere kleine Tochter, erklärte sich spontan bereit, mit einem Hut in der Hand die Wartenden um Spenden zu bitten. Ich dachte, diese Wesensart hat sie von Ernst. Dieser machte mir schmunzelnd den Vorschlag, ihn mit einem Körbchen, voll mit Leckereien zu begleiten. Ich dachte dabei spontan an Rotkäppchen und lehnte dankend ab. Unser Großer und auch der Mittlere waren der Meinung, dass die ganze Sache auch so schon überaus peinlich war und Letzterer sagte: „Oma, Papa und auch du kleine Schwester, ihr habt echt ‚Mut zur Lücke‘. Nun war die Stimmungslage im Esszimmer, der angespannten in einem Wartezimmer sehr ähnlich. Doch nur für kurze Zeit, denn die köstlichen Torten sorgten für Gesprächsstoff und bekanntermaßen entspannt und beruhigt ja Süßes die Gemüter. So war Oma Erni nach dem Kaffeetrinken sehr gerne bereit, Gedichte von Goethe und Schiller vorzutragen und auch unsere Jungs und Ernst erfreuten uns mit Gitarrenspiel und Gesang.
 
Ich dachte, ist nicht auch eine Familie ähnlich den Menschen in einem Wartezimmer eine Schicksalsgemeinschaft? Und, könnten die Ideen meiner Schwiegermutter und die meines lieben Ernst, die Wartenden mit Kunstgenüssen zu „verwöhnen“ vielleicht zukunftsweisend sein? Wer weiß!


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