Ja, und so war es dann auch
»Schatz, wir brauchen unbedingt eine neue Waage. Kann überhaupt nicht sein, dass ich so viel zugenommen habe. Wahrscheinlich ist sie kaputt.« Mein lieber Ernst wirkte ziemlich frustriert. »Nein, Schatz, ich glaube, die Waage ist okay. Mein Gewicht zeigt sie jedenfalls unverändert und ziemlich konstant an. Ich bin jedenfalls sehr zufrieden. Falls, du es nicht bist, kannst du, wenn du willst, dagegen etwas tun. Wie man Kalorien, vor allem unnötige, einsparen kann, das weiß jeder, auch du, mein Lieber.« Ich lächelte ihn aufmunternd an. »Vielleicht meldest du dich außerdem noch im Fitnessstudio an. Wenn du möchtest, kann ich dich bei deinem Vorhaben unterstützen. Auch gehe ich dann gern mit dir zur Belohnung shoppen, denn das macht dir dann bestimmt endlich richtig Spaß.«
Ernst zog seine Augenbrauen hoch und seufzte tief. Er grantelte und es zeigte sich eine steile Falte zwischen seinen Augenbrauen: »Spaß? Shoppen gehen wird mir nie Spaß machen. Wenn du mich belohnen willst, dann brutzele mir lieber ein leckeres kleines Schnitzelchen.« Ich hielt mich mit einem Kommentar zurück und es entstand eine kurze Gesprächspause. Ernst lächelte mich an: »Ich weiß nicht, wie du das mit deiner Figur hinbekommst. Für dein Alter noch passabel.« Ich zog ebenfalls meine Augenbrauen hoch und räusperte mich. »Nur passabel?« Ernst schmunzelte. »Nein, natürlich ganz toll und okay, ich werde mich gleich im Fitnessstudio anmelden. Es wäre doch gelacht, wenn ich meine alte Figur nicht wieder zurückbekäme.« Ich gab zu bedenken, dass Kalorienzählen ebenso wichtig sei, was er allerdings abwinkte. Ich dachte: Verständlich, denn das könnte, der für ihn schwierigere Teil sein. Er war, wie immer voller Tatendrang, und rief gleich wegen eines Termins im Studio an. Auch ein angesagter modischer Dress wurde gekauft. Das überraschte mich, denn mit Mode hat Ernst bekanntermaßen nichts am Hut. Doch es könnte einen Grund geben, denn unser Großer, der schon länger in dasselbe Studio ging, hatte ihm erzählt, dass es nach dem Sport an der Bar immer sehr gesellig zugehen würde. Ich spürte, dass Ernsts Stimmungsbarometer stieg.
Dann war sein erster Termin gekommen. Am frühen Sonntagnachmittag stand er gestiefelt und gespornt vor mir und wirkte sehr fröhlich und aufgekratzt. »Und Schatz, wie sehe ich aus? Ziemlich sportlich, oder? Fühle mich schon jetzt so richtig fit. Ich freue mich schon auf den Saunabereich. Er soll ganz toll sein. Hoffentlich verplempere ich dort nicht meine Zeit, denn ich will schon pünktlich zum Abendessen zu Hause sein. Übrigens, Schatz, was gibt es heute Abend Gutes?« Ich lächelte ihn an. »Für mich gibt es etwas Griechisches, Schatz. Du könntest entweder zu meinen Eltern gehen und, wie unsere Kinder, Gemüsesuppe essen, die ja schlank machen soll. Oder auch zu Hause Brot mit Schafskäse essen, dazu Gurken und Tomaten. Das ist ja auch ein bisschen griechisch.« Ernsts Fröhlichkeit war gewichen, als er irritiert wissen wollte: »Wieso isst du Griechisch und unsere Kinder bei deinen Eltern Gemüsesuppe?« Ich lächelte. »Weil ich mit den Leuten vom letzten Koch-Workshop heute Nachmittag wandern gehe und abends zum Griechen.« Ernst klang mürrisch. »Und wieso erfahre ich das erst jetzt?« »Weil du mich nicht gefragt hast, was ich am heutigen Sonntagnachmittag und -abend vorhabe.« Ich bemühte mich leichthin zu sagen: »So, ich muss mich fertig machen. Daniel holt mich gleich ab.« Ernst runzelte die Stirn. »Der Daniel?« Ich zog die Augenbrauen hoch. »Wieso der? Einfach nur Daniel, Ernst.« Seine Stimme klang jetzt etwas unsicher. »Ich habe dich nicht gefragt, was du vorhast, weil du immer behauptest, dich nie zu langweilen. Außerdem hast du mich ja gedrängt, endlich ins Fitnessstudio zu gehen. Jetzt ist es natürlich auch wieder nicht richtig. Versteh einer die Frauen.« Ich spürte, dass mir die Tränen kamen. »Ja, deine Frau fühlt sich selten gelangweilt, aber sie hat ganz bestimmt nicht gesagt, dass du dich unbedingt an einem Sonntagnachmittag sportlich betätigen sollst. Diesen Termin hätte sie dir ganz sicher nicht vorgeschlagen, denn bisher war uns diese Zeit heilig. Familienzeit, Ernst. Du hättest dich mit mir besprechen können. Musst du denn immer so impulsiv und unüberlegt handeln. Frauen sind in diesen Situationen sehr enttäuscht und sauer. Ernst, es …« Jetzt breitete er seine Arme aus und sagte: »Schatz, es tut mir sehr …«, als es an der Haustür klingelte. Es war Daniel. Ernst verzichtete darauf, diesen zu begrüßen und verschwand zügig in Richtung Wohnzimmer, sodass ich ihm zurufen musste: »Ernst, mach's gut. Bis heute Abend.«
Ich dachte: Ja, so ist er, mein lieber Ernst. Eigentlich liebe ich seine Begeisterung für etwas und seine Spontanität. Aber nicht immer, und schon gar nicht heute. Nein, heute nicht! Ich seufzte. Wenn er sich für etwas euphorisch begeistert, und das passiert oft, ist er schwer zu bremsen, kann dann nicht mehr über seinen eigenen Tellerrand schauen. Jetzt musste ich schmunzeln, denn ich wusste, dass er schon während er sich beim Sport schindet, oder doch eher in der Sauna seine Zeit verplempert, geniale Pläne bezüglich des nächsten heiligen Sonntagnachmittags schmieden wird, um sie mir am Abend spontan und voller Begeisterung zu unterbreiten. In der Hoffnung, dass diese auch mich spontan euphorisch begeistern.
Ja, und so war es dann auch.
Der Text wurde weitergeleitet an die Vereinsmitglieder der Kunstfreunde Wetter und andere lesebegeisterte Menschen.