Das "Finde-Gen"
»Mama, wo ist denn mein Schal?« und »Mama, hilf mir doch bitte mal beim Suchen. Ich finde meine warmen Socken nicht.« Mit diesen Worten begrüßten unsere Söhne den ersten frostigen Tag im November und mich. Mein lieber Ernst schloss sich an: »Schatz, wo ist denn meine Pudelmütze? Ich kann sie ausnahmsweise mal nicht finden.« Er grinste. Unsere kleine Tochter antwortete statt meiner ungehalten: »Papi, sie liegt noch immer seit dem letzten Winter im Garderoben-Körbchen. Wieso fragst du eigentlich immer gleich die Mami und suchst nicht mal selbst?« »Weil sie das sogenannte Finde-Gen hat und du wahrscheinlich, wie alle weiblichen Wesen auch. Ich finde das sehr praktisch, denn falls sie mal abwesend ist …«. Unsere Kleine stemmte ihre Hände in die Seiten: »Papi, ich helfe dir nur, wenn du vorher selbst ganz, ganz lange gesucht hast.« Dann lächelte sie ihn an: »Weil ich ganz doll lieb habe, mache ich heute mal eine Ausnahme«, sprach's und sauste zur Garderobe, um seine Mütze zu holen. Ernst breitete seine Arme aus und nahm sie auf den Arm: »Hast du Lust, am kommenden Samstagnachmittag mit mir ins Kino zu gehen? Vielleicht läuft ja ein Märchenfilm. Weißt du, dass du mir meine Mütze bringst, ohne dass ich dich darum gebeten habe, einfach so, das hat mich sehr gefreut.« Strahlend lächelte sie ihn an: »Papi, nur wir zwei, ohne die Mami? Cool. Das muss ich gleich meiner Freundin erzählen.«
Im Stillen dachte ich: Sollte mein lieber Ernst wirklich nicht ahnen, dass unsere Tochter demnächst ungebeten sehr viel und sehr gern für ihren Papi finden wird? Stattdessen sagte ich: »Momentan läuft, glaube ich, Der Froschkönig. Wäre das nicht etwas für euch beide? Na, schaut mal selbst. Ernst, offen gesagt, wenn ich mir überlege, wie oft ich schon in den vielen Jahren ungebeten vieles für dich gefunden habe, könnten wir gleich morgen Abend …« Er schmunzelte und vollendete meinen Satz: »in einen richtig schönen, romantischen Liebesfilm gehen. Nur wir beide. Selbstverständlich nehmen wir einen Pärchen-Sitzplatz, trinken Prosecco, essen Popcorn, eventuell auch Eiskonfekt, denn ich weiß ja, dass dir Eis zu jeder Jahreszeit, Tages- und Nachtzeit schmeckt.« »Ernst Schatz, ich bin beeindruckt, wie gut du mich kennst.« Unser Mittlerer bemerkte: »Mama, du liebst doch Prinzen, wie Papa, und nennst ihn ja auch gern so. Da wären doch Kekse namens Prinzenrolle genau der richtige Kino-Snack.« Ernst strich über seinen Gourmethügel, wie er seinen Bauch bekanntlich gern nennt, und sagte: »Ja, die Prinzenrolle wäre für meine empfindsamen Geschmacksknospen okay, solange ich mir parallel zu diesem Genuss, nicht Ein Herz und eine Krone ansehen muss. Würde zwar passen, aber … na, ja. Schatz, ich bin mir sicher, dass du dank deines Finde-Gens genau den richtigen Film für uns finden wirst. Bei der Vorstellung, mit dir bei diesem kalten Wetter im warmen Kino zu sitzen und einen Liebesfilm anzusehen, wird mir jetzt schon ganz warm ums Herz.« Wir lächelten uns an.
Unser Kleine sah nachdenklich aus, als sie sagte: »Mami, wenn du das Finde-Gen hast, dann hast du also damals den Papi gefunden. Papi, das war aber sehr praktisch für dich, denn du suchst ja nicht gern.« Dieser grinste. »Ich habe mich sogar vor ihr versteckt, aber sie hat mich dank ihres großen Finde-Gens trotzdem entdeckt. Da hatte ich Glück. Da ich schon damals als Prinz bekannt war, hat sie wohl das Funkeln meiner Krone gesehen.« Jetzt wollte unser Großer wissen: »Papa, was stimmt denn nun: Bisher hast du behauptet, damals die Herzen der Mädels im Sturm erobert zu haben, jetzt erzählst du uns was vom Verstecken?«
Mein lieber Ernst grinste, sah mich an und sagte: »Schatz, weißt du noch, wie es damals bei uns so war? Also, meine Erinnerungen hat diesbezüglich der Novembernebel komplett verschluckt.« Ich schüttelte leicht den Kopf. »Du hast dich vor mir versteckt? Davon wüsste ich. Da ich nicht nur großes Finde-Gen, sondern außerdem ein großes Erinnerungen-Gen habe, weiß ich noch sehr genau, dass du, Schatz, für dein ausgesprochen großes Such- und damals auch Finde-Gen bekannt gewesen bist.«
Der Text wurde an die Vereinsmitglieder der Kunstfreunde Wetter und andere lesebegeisterte Menschen weitergeleitet