"Verschieberitis" - Barbara Kaul

Barbara Kaul - Malerei, Zeichnungen, Plastiken, Gedichte, Kurzgeschichten
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"Verschieberitis"

»Och nee, Papa! Da ...«, kommt es wie aus einem Mund von unseren Söhnen. »Ja, ja, Jungs! Ich weiß, da habt ihr keine Zeit. Gerade an diesem Tag müsst ihr zwei etwas ganz Wichtiges erledigen, das sich nicht verschieben lässt. Da Dachboden und Keller aber unbedingt entrümpelt werden müssen, nehme ich mir dafür Zeit und ihr zwei auch. Das ist doch ganz einfach. Die allseits beliebte Ausrede, keine Zeit zu haben, kenne auch ich aus meiner Jugend. Mit den Jahren merkt man allerdings, dass, wenn man erfolgreich sein will und sich Ziele gesteckt hat, diese zügig und ohne Abweichungen verfolgt werden müssen. Verschieberitis ist nur was für Softies! Ihr kennt doch dieses berühmte Wort mit drei Buchstaben, das schon einst Goethe, mein Vater und ich …« Unser Mittlerer rollt mit den Augen und sagt: »Ja, Papa, wir kennen das Wort. Es heißt tun!« »Prima, geht doch! Dann ist ja alles klar, Jungs.« Ernst grinst. »Mit eurer jugendlichen Frische und Muskelkraft, beides schwindet leider bei mir«, Ernst seufzt kurz, »ist die Sache schnell erledigt. Ihr werdet sehen! Bei meinem Rundgang durchs Haus habe ich allerdings auch sehr viele Bücher entdeckt. Ja, ich muss sagen, wir sind eine richtige Bücherwürmer-Familie. Finde ich toll, denn der allgemeine Trend ist das digitale Lesen, was durchaus seine Berechtigung hat. Mir gefällt es besser, in einer Zeitschrift oder in einem Buch zu lesen. Dieser einzigartige Duft von Papier, das Rascheln der Seiten beim Blättern, das Texte markieren, das Umknicken der Blattecken zu Eselsohren, das alles hat etwas Besonderes. Trotzdem sollten wir unsere gesamte Lektüre durchforsten und entsprechend aussortieren. Lasst uns am besten gleich damit beginnen und nicht verschieben. Ihr kennt doch den bekannten Spruch: Was du heute kannst, besorgen, das verschiebe nicht auf morgen! Ich bin sehr gespannt, wer von uns den höchsten Bücher- und Zeitschriftenstapel haben wird.«

Unser Großer seufzt. »Och nee, Papa! Dazu habe ich aber nun wirklich keine Zeit.« Er mault weiter vor sich hin. »Ja, ja und keine Lust. Ich weiß!«, vollendet mein lieber Ernst den Satz. Jetzt setzt sich unsere Kleine auf seinen Schoß, lächelt ihn sehr lieb an und sagt: »Du Papi, weißt du waas? Ich kann mich bestimmt nicht entscheiden, welches Buch ich weggeben soll. Ich finde alle meine Bücher so toll, dass ich auch alle behalten will. Das geht doch bestimmt?« Ernst nickt. »Schatz, was meinst du?« Vor meinem geistigen Auge sehe ich den kleinen Stapel aussortierter Bücher und Zeitschriften unserer Jungs und den winzigen von Ernst. Bestimmt werden die drei mit diesem Vorhaben auch nicht gleich beginnen. »Ja, klar! Das Aufschieben ist völlig okay, denn Entscheidungen zu treffen, ist ein sehr schwieriges Thema. Vor allem, wenn diese nicht so einfach rückgängig zu machen sind. Haben wir ein geliebtes Buch mit markierten Textstellen weggegeben, werden wir es vielleicht doch irgendwann vermissen -auch, wenn wir das Buch schon länger nicht mehr in der Hand hatten. Ja, dann ist es weg. Leider. Deshalb verschieben wir so gerne Entscheidungen. Oder wir eiern bis auf Weiteres drumherum. Ausnahmsweise. Mal. Kennt und macht jeder. Wir sind eben nur Menschen. Mir würde es schwerfallen, zu entscheiden, welche meiner vielen Kochbücher ich aussortieren sollte. Sie haben sich im Laufe der Jahre angesammelt und sind mit Erinnerungen verbunden. Ich hänge an ihnen. Keines möchte ich missen.« Ernst runzelt die Stirn: »Ich weiß, nicht, wozu du überhaupt Kochbücher brauchst? Du kochst doch am liebsten ganz ohne Rezept und zauberst trotzdem leckeres Essen auf den Tisch.« Er schmunzelt. »Aber offen gesagt, wundert mich diese Vorgehensweise nicht, weil du dich auch sonst nicht …« Ich räuspere mich: »Apropos Kochen! Da ich euch bei der Entrümpelungsaktion ohnehin nicht mit Muskelkraft und jugendlicher Frische dienen kann, werde ich an diesem Wochenende zu einem Koch-Workshop fahren.«
 
Ernst runzelt seine Stirn. »Warum findet das Ganze eigentlich mit Übernachtung statt? Und sag mal, fährt dieser Daniel etwa auch mit?« »Warum denn nicht mit Übernachtung, Schatz? Und ja, ich gehe davon aus, dass Daniel mitkommen wird.« Mein lieber Ernst zieht die Schultern nach hinten und streckt die Brust raus. Durch die aufrechte Haltung wirkt er einige Zentimeter größer und seine Schultern scheinen breiter zu werden. Er räuspert sich. »Ihr wisst ja, dass ich normalerweise nicht an Verschieberitis leide, aber jetzt treffe ich spontan die Entscheidung, dass die Entrümpelungsaktion bis auf Weiteres verschoben wird, denn ich werde eure Mutter zum Workshop begleiten. Kinder, seid ihr damit einverstanden?« »Ja!«, kommt es von unseren Jungs wie aus einem Mund und ihre Augen strahlen. Auf die Frage der kleinen Schwester, ob sie während der Zeit bei Oma Erni bleiben dürfte, antworten sie wieder einstimmig »Ja«. Sicher haben sie schon das sturmfreie Wochenende vor ihrem geistigen Auge.
 
»Ernst, dass du mich begleiten möchtest, freut mich sehr. Aber hast du auch bedacht, dass wir viel kochen, brutzeln und backen werden und nur wenig Zeit für Wellness und Sightseeing sein wird?« »Ja, natürlich, Schatz! Darüber bin ich mir selbstverständlich im Klaren. Ich freue mich aber trotzdem, endlich meine Kochkenntnisse zu erweitern, die bei Strammer Max und Aufbacken von Tiefkühlpizza stagnieren.« Unsere Jungs grinsen.
 
Ich höre, wie unser Großer seinem Bruder zuflüstert: »Schade! Ich wäre sehr gerne dabei, wenn sich unser Amateurkoch Papa und der versierte Hobbykoch Daniel eine Küchenschlacht liefern. Männliches Imponiergehabe. Finde ich echt cool! Bestimmt nimmt Papa seine Gitarre mit.«
 
Ich überlege: Ja, ganz sicher wird Ernst für die abendliche Stimmung seine Gitarre nicht vergessen. Sehr gerne zwischendurch die Seiten zupfen und dazu singen, anstatt den Kochlöffel zu schwingen. Er beweist wieder einmal Mut, weiß er doch, dass er die Küchenschlacht gar nicht gewinnen kann. Ja, das Wochenende könnte interessant werden. So insgesamt und auch im Speziellen!
 
Mein lieber Ernst leidet an Verschieberitis! Also doch. Ausnahmsweise. Ich muss schmunzeln.
 


 
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