"Treppenhausgespräch" oder "Verwirrung aller Art" - Barbara Kaul

Barbara Kaul - Malerei, Zeichnungen, Plastiken, Gedichte, Gespräche, Kurzgeschichten
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"Treppenhausgespräch" oder "Verwirrung aller Art"

»Sagen Sie, liebe Frau Meier, kennen Sie das auch, dass Ihnen Namen von Menschen, die Sie länger nicht gesehen oder die sich verändert haben, nicht mehr einfallen? Tausend Namen schwirren dann in meinem Kopf durcheinander. Das ist sehr verwirrend. Neulich wars wieder so weit. Ich dachte: Wie heißt die Frau? Vielleicht wurde meine Verwirrung während der Begrüßungsrunde sogar bemerkt. Könnte sein. Es war eine peinliche, unangenehme Situation.« Sie seufzte. »Ja, früher waren es die Gefühle, die mich verwirrt haben.« Sie seufzte erneut, dann lächelte sie.
 
»Also, Namen verwirren mich eher selten. Die Verwirrung der anderen Art, die der Gefühle, die kenne ich immer noch, liebe Frau Müller.« Sie lächelte ebenfalls.

»Wieso Müller? Mein Name ist Müller-Schulze. So viel Zeit muss sein.« Sie seufzte, schüttelte leicht den Kopf. »Aber es kommt noch besser, liebe Frau Meier: In letzter Zeit fällt es mir immer schwerer Gesichter wiederzuerkennen. Bei Menschen wie ihnen, die ich fast täglich im Treppenhaus sehe, ist das kein Problem. Passiert mir bei Personen, die ich zum Beispiel in einer ungewohnten Situation erlebe. Manchmal kann ich mich glücklicherweise an ihren Gang oder die Stimme erinnern. Aber wie das so ist mit Erinnerungen. Die können sehr trügerisch sein. Auch Sonnenbrille, Hut oder ein Käppi können mich verwirren, auch Männer, die plötzlich einen Bart tragen. Ich bin dann komplett aufgeschmissen. Sicherlich bin ich deshalb schon häufig an Menschen grußlos vorbeigegangen, was mir sehr leidtut. Man könnte mich deshalb fälschlicherweise für arrogant oder bestenfalls für verschusselt halten. Vielleicht. »Menschen, die von meinem Handicap wissen, winken mir glücklicherweise schon von weitem zu oder grüßen zuerst.« Sie lächelte.
 
»Und, Frau Müller-Schulze, Hand aufs Herz: Sind Sie auch schon mal grußlos an ihrem Chef vorbeigegangen?«
 
»Glücklicherweise, Frau Meier, sehe ich meinen Chef meist in seinem Büro sitzen. Doch neulich in der Stadt war es wieder so weit, als mir ein Mann sehr freundlich lächelnd entgegenkam. Ich dachte, das könnte Stefan, er ist ein Kollege, sein, oder auch jemand, der ähnlich aussieht. Er sagte freundlich: Hallo Frau Meier. Oder sind Sie Frau Müller? Sie müssen meine Unsicherheit diesbezüglich entschuldigen. Ja, mit den Jahren, da … Na, Sie wissen schon … Ich dachte: Wer ist dieser freundliche, verwirrte Mann? Und erleichtert: Dem geht’s wie mir. Wie heißt er nur? Bei näherem Hinsehen ist er doch nicht Stefan. Vorsichtshalber lächelte ich ihn an und sagte: Mein Name ist Müller-Schulze. Und sie sind …
 
… der Chef, ihr Chef. Ja, natürlich. Ganz recht, liebe Frau … ach ja, Frau Müller-Schulze. Ja, mich erkennt man schon von weitem. Bin bekannt wie ein bunter Hund. Er lachte. Einen schönen Tag noch, Frau … wie war noch gleich der Name? Ach ja, Meier. Wusste ich’s doch. Warum nicht gleich? Ich lächelte und dachte: Noch mal Glück gehabt. Aber wieso nennt er mich schon wieder Frau Meier? Nun, ja, was soll’s. Sie lächelte, seufzte dann. »Aber es kommt noch besser. Stellen sie sich vor, was mir vor ein paar Tagen passiert ist: Ich saß in einem Café gemütlich bei Kaffee und Kuchen, als ein Mann hereinkam, der fröhlich sagte: Hallo, schön dich zu sehen. Darf ich mich zu dir setzen? Etwas befangen, unsicher und verwirrt dachte ich: Seit wann duzt mich der Chef? sagte sehr freundlich: Ja, sehr gern, selbstverständlich. Der Mann sah mich erstaunt an: Seit wann bist du so förmlich? Kennst du mich nicht mehr? Ich bin’s, Stefan. Okay, ich war im Urlaub. Der hat mich verändert. Innerlich und äußerlich. Die drei Wochen in der Sonne haben mir so gutgetan, dass ich dachte: Jetzt muss ich mich auch optisch verbessern, und habe mir, gebräunt wie ich bin, blonde Haarsträhnen gegönnt, mir Tattoos stechen lassen und neue, modische Klamotten gekauft. Jetzt bin ich ein völlig neuer Typ. Fühle mich jetzt so wie unser Chef und sehe aus wie er. Findest du nicht auch? Ich dachte, ja, doch, in der Tat, lächelte ihn an: Und, wie wäre es mit Kaffee und Kuchen, Stefan? Dieser grinste: »Wieso Stefan?«
 
Frau Meier schmunzelte.

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