"Survival-Fieber"
Schon seit Wochen waren unsere zwei Jungs und mein lieber Ernst im Survival-Fieber. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn sie konnten sich bei ihren Diskussionen zum Thema Überlebenstraining so richtig in Hitze reden.
Ich stand in unserer Küche und war mit der Zubereitung des Abendessens beschäftigt, als Ernst mich auf den neuesten Stand ihres Survival-Trips bringen wollte. Meine drei Überlebenskünstler hatten sich eine deftige würzige Gulaschsuppe gewünscht, bevor es in Kürze mit den kargen Mahlzeiten losgehen würde. Gut gelaunt sagte er: »Das duftet ja köstlich, sehr appetitlich, Schatz. Ich freue mich schon und bestimmt auch die Jungs. Die beiden sind ja immer hungrig. Okay, in ihrem Alter normal. Allerdings müsste ich diesbezüglich eigentlich mindestens dreißig Jahre jünger sein.« Er grinste und streichelte seinen Gourmethügel, wie er seinen Bauch gern liebevoll nennt.
»Ernst, du solltest mehr Sport machen, mehr auf dein Gewicht, mehr auf deine Gesundheit achten. Ich mache mir deshalb Sorgen«, ließ ich ihn wissen. »Ja, ja, gleich nach unserem Trip, der bestimmt schon Pfunde purzeln lassen wird, werde ich mich mit diesem leidigen Thema befassen.« Er seufzte, ich ebenso. »Das Thema als leidig zu empfinden, ist der falsche Ansatz. Du hast doch ansonsten genug Energie und Durchhaltevermögen, wenn du etwas erreichen willst. Helfen könnte, wenn du Fotos aus schlankeren Zeiten, zum Beispiel an die Kühlschranktür hängen würdest, auch könntest du gleich jetzt auf die Suppe verzichten und stattdessen einen großen Salat essen.« Ernst runzelte die Stirn. »Guter Tipp mit den Fotos, aber jetzt gibt’s erstmal Gulaschsuppe. Ja, ich sollte mein Denken ändern, aber es ist nicht so einfach für mich. Diesbezüglich komme ich schnell an meine Belastungsgrenze.« Jetzt grinste er, denn sogleich erfuhr ich von ihm, wie wichtig es sei, unsere Jungs während des Trips an ihre physische und psychische Belastungsgrenze heranzuführen. Auch sei es im Trend, ein Überlebenstraining zu absolvieren. Unsere zwei wären seiner Meinung nach dank meiner liebevollen Fürsorge viel zu verweichlicht. Dieses ändere sich aber nun endlich, denn sie würden von ihm lernen, sich mit nur wenigen Hilfsmitteln in der wilden Natur durchzuschlagen. Die theoretischen Kenntnisse hätte er ihnen schon beigebracht, jetzt ginge es an die Praxis. In seiner Jugend sei er als sehr abenteuerlustig bekannt und entsprechend auch in der Natur unterwegs gewesen. »Schatz, du hast mich damals als denjenigen kennengelernt und, wenn ich mich richtig erinnere, unter anderem auch deshalb sehr bewundert.« Er erzählte weiter, dass er deshalb auch wisse, dass der Mensch theoretisch drei Wochen ohne Nahrung überleben könne«, Ernst grinste, »aber nur drei Tage ohne Wasser. Deshalb sei ein Wasserfilter sehr wichtig, ebenso ein Survival-Messer, um Tiere zu häuten und auszunehmen. Das Fleisch und die Forellen würden dann allerdings ohne viel Gedöns an Gewürzen über dem Lagerfeuer gebraten.«
Weiter kam er nicht, denn von unserem jüngeren Sohn, der vom köstlichen Duft der Suppe angezogen die Küche betrat, kam ein entrüstetes: »Papa, Feuer machen, das kriege ich hin, aber das andere ist dein Job. Wenn ich nur daran denke, wird mir schon speiübel. Ich werde in diesem Fall mal ganz locker unseren Trip unterbrechen und mir Currywurst, Pommes und eine Cola genehmigen.» »Oh nein, mein Sohn. Du solltest das Training unbedingt durchziehen und dich im Durchhalten üben, damit du hinterher stolz auf dich sein kannst. Später würdest du es ganz sicher bereuen, wenn du unterbrichst oder vorzeitig aufgibst. Du solltest darüber nachdenken«, kommentierte Ernst den Einwand unseres Mittleren ungewohnt ernsthaft. Ja, ja, Wasser predigen und Wein trinken, das kann mein lieber Ernst, dachte ich. Dagegen bestätigte unser Großer seinen Vater als ernstzunehmenden Pädagogen. »In diesem Fall gebe ich Papa mal recht. Du bist ja ein richtiger Softie kleiner Bruder.« »Oh lecker, es gibt Softeis zum Nachtisch« betrat unsere Kleine hörbar freudig die Küche. »Softeis gibt es nicht im Supermarkt, aber ich weiß, wo ein Stand ist. Wir könnten morgen zuerst dort hingehen und danach noch ins Kinderkino. Hast du Lust?« wollte ich von ihr wissen. »Au ja, super Idee. Nur wir beide, ohne unsere drei Männer«, kam es sehr begeistert von unserer kleinen Tochter.
»Eis ist immer eine gute Idee, auch als Nachtisch zu unseren selbst gesammelten Beeren. Sollten wir vielleicht unseren hoffentlich erfolgreich abgeschlossenen«, unser Großer unterbrach seinen Satz mit einem Seitenblick auf seinen Bruder, »Survival-Trip, mit einer Grillparty beschließen? Der Vorschlag kommt von meiner Freundin, weil sie die Sache toll findet. Wir drei nehmen ja bestimmt außer unseren Angelruten, auch die Gitarren mit. Die wären super für die Partystimmung und gegen unseren Frust, falls die Forellen nicht so richtig beißen wollen.« »Geniale Idee, mein Großer. Ja, wir sollten feiern, dass wir nicht aufgeben und durchhalten, wenn es schwierig wird, denn es kann durchaus sehr kritische Situationen geben. Aber wenn wir uns gegenseitig unterstützen, bekommen wir drei das hin.«
Ja, denke ich erneut, du hast recht Ernst mit dem Stolz sein danach, weil du von den Schwierigkeiten beim Durchhalten weißt. Allerdings müsstest du erstmal beginnen, damit du hoffentlich nicht aufgibst, und ja, ich würde dich unterstützen, wenn du an deine Belastungsgrenze kommen solltest, und ja, die wird kommen. Laut sagte ich: »Übrigens, Schatz, deine Mutter hat ebenfalls eine geniale Idee. Sie lädt uns alle zu einer ihrer vornehmen Dinnerpartys ein und erwartet natürlich von dir und mir, dass wir im eleganten Outfit erscheinen. Ihr drei Jungs, wie sie sagte, könntet nach dem Essen im Wintergarten ein kleines klassisches Gitarrenkonzert geben. Eine junge Geigerin wird auch dabei sein. Jetzt kommt der Haken an der Sache. Das Fest wird während eures Survival-Trips stattfinden. Da du deine Mutter sehr gut kennst, ist dir klar, dass sie dessen ungeachtet unser, insbesondere das Erscheinen ihres geliebten Sohnemanns selbstverständlich erwartet.« Entrüstet und seine Stirn kräuselnd, entgegnete dieser merklich sauer: »Das ist wieder ganz typisch für meine Mutter. Sie versucht wieder mal, meine Pläne zu durchkreuzen, um mich für ihre einzuspannen. Wir drei sollen unseren Abenteuertrip für diese Small–Talk Party unterbrechen? Ich werde ihr diesen Gefallen nicht tun. Ganz bestimmt nicht. Dieses Mal nicht. Dieses Mal bestimmt nicht!«
In diesem Moment klingelte das Telefon. Ich ging ran und seufzte leise, da ich den Gesprächsverlauf ahnte: »Ernst, ist für dich. Es ist deine Mutter.« Da diese bekanntermaßen viel und ausgesprochen lebhaft spricht, waren jetzt folgende Gesprächsfetzen von Ernst zu hören: »Also Mama, das passt mir, …, äh, ich könnte …, sehr ungern, aber ..., Mama, vielleicht ist …, ja, also okay, Mama ist gut, …, … ja, wir kommen alle gern …, und ja, mit dem Konzert, das …, … ja, ich komme auch ganz sicher im edlen Zwirn. Ja, Mama, mach's gut. Bis bald und viele Grüße an Papa.« Ernst wirkte geradezu verzweifelt, als er in die Familienrunde blickend sagte: »Warum nur habe ich mal wieder nachgegeben, mich von ihr einwickeln lassen? Ich hatte mir doch so fest vorgenommen, mal Nein zu sagen. Warum nur kann ich mich bei meiner Mutter nicht durchsetzen?«
Unser Mittlerer erwiderte: »Weil du und auch wir unseren Trip sehr, sehr gern für leckeren Wildschweinbraten mit nicht von uns gesammelten Preiselbeeren, Kartoffelklößen statt Stockbrot und nicht von uns gefangenen Bachforellen im Kräutermantel unterbrechen. Für dieses super Essen spiele ich ausnahmsweise sogar Klassik. Und bei Rotwein statt Quellwasser, Papa, da sagst du doch auch nicht nein. Außerdem bist du als der Gentleman bekannt, der Frauen« er schaute jetzt seine kleine Schwester und mich an, »nur sehr ungern eine Bitte abschlägt.«
Der Text wurde an die Vereinsmitglieder der "Kunstfreunde Wetter "und andere Interessierte weitergeleitet.