Zeit für ... - Barbara Kaul

Barbara Kaul - Malerei, Zeichnungen, Plastiken, Gedichte, Kurzgeschichten
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Zeit für ...


»Weißt du Schatz, so ein Mittagsschläfchen ist etwas ganz Wunderbares. Ich fühle mich erfrischt und geradezu jünger. Ein Urlaubstag zwischendurch ist einfach genial. Das sollte ich viel öfter machen. «Mein lieber Ernst reckte und streckte sich wohlig auf unserem bequemen Sofa der ganzen Länge nach aus. »Ich habe geträumt, dass ich unendlich viel Zeit hatte, um einfach nur so zu leben. Es war ein sehr angenehmer und entspannter Daseinszustand. Alle Verpflichtungen erledigten sich wie von selbst, vor allem das von mir ungeliebte Reparieren und Renovieren. Auch du und die Kinder habt mir keine Aufträge erteilt und Druck gemacht.« Er grinste. »Das Beste aber war, dass wir beide so viel Zeit füreinander hatten, wie wir wollten, um über Gott und die Welt zu reden. Unsere Zeit floss wie ein langsamer, breiter Strom dahin. Ruhig und stetig, ohne irgendwelche Hindernisse. Es fühlte sich perfekt an.« Ich sagte: Wünschen und erträumen wir nicht selten das Gegenteil unserer Realität in der Hoffnung auf Besserung? Aber vielleicht brauchen wir Probleme, Enttäuschungen und Herausforderungen, um uns persönlich weiterzuentwickeln. Ich wünsche mir, dass wir alle das Leben, so wie es sich gerade zeigt, mehr in Gelassenheit, Dankbarkeit und mit einem friedlichen Gefühl annehmen können. Selbstbestimmtes und bewusstes Handeln kann helfen, die eigene Mitte zu finden. Wenn wir über unseren Tellerrand hinausblicken und auf die Bedürfnisse anderer eingehen, könnten wir unsere Sicht auf das große Ganze erweitern. Auch glaube ich, dass ein immer wieder kehrender Wechsel zum Beispiel zwischen Stille und Trubel uns guttut. Wie wäre wohl unsere Zeit ohne inspirierende, unterhaltsame und humorvolle Diskussionen?« »Sie würde still, ruhig, gleichmäßig und sehr öde, ganz ohne Hindernisse dahinfließen. Ein Leben, indem du aber eventuell wenig Gelegenheit hättest, das letzte Wort zu haben. Es wäre sehr langweilig und wenig reizvoll, wie ich finde.« Er schmunzelte. »Ernst, da aber momentan in unserem Lebensfluss oft dicke Steine herumliegen, die wir umkurven oder beiseiteschieben müssen, würde ich jetzt gern mit dir auf ein Stündchen in unser Lieblingscafé gehen, um ruhig und gemütlich bei Kaffee und Kuchen zu entspannen. Stimmst du meinem letzten Wort zu?« Er lachte und sagte dann: »In diesem Fall sehr gern.«
 
Aber es sollte anders kommen. Wie öfter im Leben!
 
»Mir ist so … langweilig«, sagte unsere Kleine und es klang etwas jämmerlich, als sie trödelnden Schrittes ins Wohnzimmer kam. »Ich weiß nicht, was ich machen soll. Zum Glück komme ich bald in die Schule. Du Papi, spiel doch endlich mal wieder auf deiner Gitarre. Jetzt hast du Zeit. Und wann gehen wir endlich mal wieder ins Kino? Der Froschkönig war so toll. Rück doch mal zur Seite, ich will mit dir kuscheln. Dazu hast du auch immer viel zu wenig Zeit.« Sie sprach’s und schlüpfte unter seine Decke.
 
Mit Gitarre unter dem Arm betrat unser Mittlerer das Wohnzimmer. »Was herrscht denn hier für eine langweilige Idylle? Mit euch ist heute aber auch gar nichts los. Es sieht so aus, als hättet ihr alle Zeit der Welt. Anscheinend auch du Papa. Passt prima, denn du musst mir mal helfen. Ich will für Mira einen Song komponieren und komme nicht klar. «Unser Großer, der ihm folgte, sagte: »So viel Zeit, wie ihr alle, hätte ich auch gern nur ein einziges Mal. Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Der Schulstress raubt mir Zeit und Nerven ohne Ende. Meine Neue, die Lena, hat sich schon beschwert, dass wir deshalb so wenig unternehmen. Papa, wenn du sogar Zeit hattest, einen Mittagsschlaf zu machen, dann kannst du mir bei Mathe helfen. Es ist ja bekannt, dass ich es nicht so mit Zahlen habe. Also, dass ihr es alle wisst, ich studiere auf gar keinen Fall BWL wie du Papa, sondern Kunst oder Musik. Dann kann ich öfter mal ein entspanntes Mittagsschläfchen machen. Ich freue mich jetzt schon darauf.«
 
In diesem Moment läutete es lang anhaltend und gänzlich unentspannt an unserer Haustür. Der Kommentar unseres Mittleren: »Das kann nur eine sein, Oma Erni.« Ja, und sie war es auch. Mit herzlichem Überschwang wie immer betrat sie das Wohnzimmer. Mein Schwiegervater kam mit einigem Abstand langsam hinterher. Sie sagte: »Ach, wie schön zu sehen, dass ihr alle Zeit habt, so gemütlich im Wohnzimmer herumzusitzen oder gar zu liegen.« Und an mich gewandt: »Liebes, dann bist du bestimmt so gut und kochst schnell einen kleinen Espresso für uns. Und du, Sohnemann, hast jetzt, wie zu sehen, endlich Zeit, unsere Steuererklärung fertig zu machen. Nach deinem Mittagsschlaf bist du ausgeruht und die Sache ist ja auch schnell erledigt. Der Opa und ich haben nicht so viel Zeit wie ihr alle. In einer Stunde beginnt unsere Lieblingsserie und vorher wollen wir, wie jeden Tag, noch unser Nickerchen machen. Also Sohnemann, auf geht’s.«
 
Ernst seufzte, sah mich an und sein Blick sagte: Das war bis auf Weiteres mein letzter wunderbarer, einfach mal so zwischendurch Urlaubstag.
 
Text weitergeleitet an die Vereinsmitglieder der Kunstfreunde Wetter und andere lesebegeisterte Menschen
 
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