Herbststimmung oder "Der Lack ist ab" - Barbara Kaul

Barbara Kaul - Malerei, Zeichnungen, Plastiken, Literatur
Direkt zum Seiteninhalt

Hauptmenü:

Herbststimmung oder "Der Lack ist ab"

Es ist so ein richtiger Bilderbuchnachmittag im Herbst. Schon ein bisschen frisch, aber durch die wärmende Sonne noch sehr angenehm, sodass wir auf der Terrasse Kaffeetrinken können. Der Nachbar ruft herüber: „Ernst, morgen Abend beim Skat soll es Schlachteplatte geben und ein Fässchen Bier. Hast du auch Lust drauf?“. „Lust bestimmt, aber Papa ist jetzt Vegetarier. Er trinkt übrigens auch keinen Alkohol mehr“, ruft unser Großer zurück. „Ernst, dann bring dir doch deinen Tofuaufschnitt, Käse und stilles Wasser mit. Ist das ok für dich?“, will der Nachbar wissen. Ist da so ein „Lästerton“ zu hören? „Geht in Ordnung“, ruft Ernst mit gepresster Stimme zurück. Jetzt fängt er an, über gesunde, vegetarische Kost zu referieren. Auch über die Mastbetriebe im Allgemeinen und über den Gesundheitsaspekt durch Alkoholverzicht im Besonderen weiß er viel zu sagen. „Ernst“, mahne ich. „Wir haben es verstanden“. Ich denke, wollen die Jungs das überhaupt verstehen? Diese verdrehen gut sichtbar ihre Augen. „Ach, und was war beim Grillen vor zwei Wochen Papa? Da haben Dir Würstchen, Steaks und Weizenbier aber noch prima geschmeckt“, sagt der Mittlere. „Ich mach mal meine Runde durch den Garten“, murmelt Ernst, und verzieht sich. „Das erhöhtes Cholesterin gefährlich ist und sein Gichtanfall sehr schmerzhaft war, das wisst ihr ja. Deshalb versteht ihr sein Verhalten doch auch sicher, oder Jungs?“, rufe ich sie zur Räson. Ernsts Abwesenheit ist für sie die Gelegenheit, über seine neue Anti-Age Gesichtscreme mit Q10 und das Haar-Schampon gegen dünnes Haar abzulästern. „Der Lack ist ab bei Ernesto“, sind sie sich einig. „Ein bisschen mehr Respekt Jungs, bitte“, ermahne ich sie. „Wieso nehmt ihr denn übrigens Pickelcreme und Haar-Styling Gel Stärke 10?“ Die beiden Jungs verziehen sich ebenfalls irgendetwas murmelnd in ihre Zimmer.
Bei unserem Abendspaziergang ist mein lieber Ernst auffällig ruhig und in sich gekehrt. „Was ist los, kann ich helfen?“, will ich wissen. „Ach der Lack ist ab, und die Mitte des Lebens habe ich auch überschritten. Ich bin irgendwie in Herbststimmung. Mein  Haar ist so dünn geworden, dass ich aussehe wie ein entlaubter Baum jetzt im Herbst. Dann darf ich nicht mehr essen und trinken, was mir schmeckt, ja, und ich mach mir auch Gedanken wegen meines Jobs. Corona, du weißt schon. Ich hoffe, da ändert sich nichts. Und auf Skat mit Schlachteplatte, die aber nicht für mich ist, habe ich irgendwie auch keine richtige Lust. Ich bin eben im Herbst meines Lebens angekommen“. „Ach Ernst, wo bleibt denn dein Humor und deine Zuversicht? Das Leben verändert sich doch permanent für jeden von uns. Gab es aber nicht bisher auch immer eine Lösung? Kann es sein, dass du gerade ein ganz kleines bisschen in Selbstmitleid badest? Wie wäre es mal mit einer großen Portion Dankbarkeit für das, was du alles hattest und hast. Allein dieser Spaziergang, auf dem ich dich begleite! Ist das Nichts?“ Ich stoße ihn an. Ernst nimmt mich lächelnd in den Arm. „Du hast ja mit vielem recht, vor allem mit der Dankbarkeit. Ich vergesse das oft. Aber trotzdem! Vieles ist schwierig.“ „Ernst, ich denke, die Kinder könnten ja mittags erst mal in der Schule beziehungsweise in der Kita essen. Auf Dauer ist vegetarisches Essen für sie auch nicht so gut. Und noch etwas. Was hältst Du davon, wenn du zum Skat deine Gitarre mitnimmst? Tofuaufschnitt, Käse, stilles Wasser und dazu Country-Songs. Ist doch eine coole Kombination. Ich glaube, das könnte ein richtig schöner Abend werden.“ „Super Idee von dir. Danke für den Tipp. Das wird den Jungs bestimmt gefallen“.

Da ist er wieder, mein „alter“ Ernst.
Bis zum nächsten Mal, wenn er wieder vor seinem Käsebrot sitzt!!!

Diese Kurzgschichte wurde im Gemeindeblatt "Lahntal aktuell" Ausgabe 2020 Nr. 45 veröffentlicht




Zurück zum Seiteninhalt | Zurück zum Hauptmenü