Der heilige Martin - Barbara Kaul

Barbara Kaul - Malerei, Zeichnungen, Plastiken, Literatur
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Der heilige Martin

Teil 1

Es ist 8 Uhr. Ich habe einen Termin bei einem Facharzt und muss warten.
Typisch! Auf einen Halbgott in Weiß muss man natürlich warten. Ich hatte das schon erwartet.
Ich habe so meine Erwartungen. Kompetent muss er sein und sehr freundlich. Diese gewisse Ausstrahlung muss er haben. Das ist doch wohl selbstverständlich. Schließlich soll er mich ja heilen, also soll er auch ein bisschen heilig strahlen.
Endlich komme ich dran. Kompetent scheint er ja zu sein. Aber ansonsten? Meine sonstigen Erwartungen erfüllen? Nicht die Spur. Er ist nicht gut drauf. Er menschelt.
Wahrscheinlich heißt er Martin, ist Single, wohnt in schwarz, weiß, grau. Irgendwo ein Kaktus, (einer nicht mal drei!), isst Sushi aus der Schachtel bei laufendem Fernseher und bedient zeitgleich das Smartphone. Nein, eigentlich kann ein Mann nicht drei Dinge gleichzeitig tun. Aber Martin ist ja kompetent, wenn auch nicht so mitteilsam. Der heilige Martin teilte sogar seinen Mantel.
Sollte ich doch ein bisschen Mitgefühl haben mit diesen Menschen Martin?
Am späten Nachmittag sind mein Mann und ich im Supermarkt an der Kasse.
Mein Mann heißt Ernst, hat aber trotzdem Humor. Er meint den bräuchte er auch bei mir! Ich weiß wirklich nicht wie er das meint!
Hinter uns Martin! Ich stupse Ernst an. Ich hatte ihm natürlich von Martin erzählt. Aber Martin wird Stefan und Papa genannt. Er hat Ehefrau und vier Kinder bei sich. Bello wartet bestimmt bei „Ich muss draußen bleiben“. Wer vier Kinder hat, hat bestimmt auch einen Familienhund.
Martin nickt mir freundlich zu. Heuchler! Im Beisein seiner Familie will er bestimmt einen guten Eindruck machen.
Dass er morgens so schlecht drauf war, hat sicher mit der Familie zu tun. Der Älteste hatte wahrscheinlich eine 5 in der Mathearbeit. Ärgerlich, denn er sollte ja Medizin studieren. Ja, und sicher haben sich die Schwiegereltern für einige Tage selbst eingeladen. Da muss man doch wirklich Mitgefühl haben. Ein Halbgott ist ja auch nur ein Mensch.
Ich erzähle Ernst von meinen Vermutungen. Er meint, er hoffe, dass ihn sein Humor nie im Stich ließe.
Wie meint er denn das nun wieder? Ernst nennt meine Vermutungen Unterstellungen. Das ist ja nun wirklich eine Unterstellung!!
Als wir nach dem Bezahlen beim Bäckerwagen auf dem Parkplatz anstehen, sehen wir bei „Ich muss draußen bleiben“ keinen Bello.
„Jetzt kidnappen die auch schon Hunde“, sage ich zu Ernst.
„Wer sind denn die und vielleicht haben die ja gar keinen Bello“. Ist Ernst irgendwie nicht gut drauf?
Da kommt Martin und Familie. Sie scheinen ihren Bello vergessen zu haben, denn sie gehen einfach weiter. Ist ja nicht zu fassen.
Ich überlege lange und sage zu Ernst: „Du hast recht. Die haben bestimmt gar keinen Hund. Bei 4 Kindern!“
Er zurück: „Ach, auf einmal. Du hast doch gesagt, bei 4 Kindern sei ein Hund obligatorisch“. Er grinst.
Obligatorisch! Muss er denn immer so geschwollen daherreden.
Jetzt lacht Ernst und sagt: „Du hast wirklich immer sofort eine neue Vermutung parat.
Er hat ja irgendwie recht, mein Ernst. Ich muss jetzt auch lachen.
Lachen ist ansteckend und ich vermute auch gesund. Nein, dieses Mal behaupte ich es sogar.
Das muss ich dem „heiligen Martin“ sofort beim nächsten Termin erzählen.

Teil 2

Victor`s Mama ist auch da, auf dieser alljährlichen Gartenparty bei Meiers. Sie ist eine elegante Erscheinung, schon älter, aber als sie jung war, sicher eine schöne Frau. Sie erzählt von Victor, ihren Sohn und Lebensmittelpunkt. Er sei ein begnadeter Chirurg mit sensiblen Fingern, der in seiner knappen Freizeit noch am Klavier säße. Unverheiratet wohne er selbstverständlich bei ihr, schließlich sei in der Villa genug Platz. Beim letzten Hauskonzert sei sie beunruhigt gewesen, denn er habe einen intensiven Blickkontakt mit der Cellistin Victoria gehabt, einer Veganerin! Victor, Victoria das habe doch hoffentlich keine Bedeutung! Veganes Essen, fürchterlich! Wünscht sich Victor auch, aber da sie für ihren Sohn selbst kocht, ansonsten hat sie Personal, gibt es natürlich vom Rindergulasch über Sauerbraten und Dampfnudeln nur nahrhaftes Essen. Ihr Victor sei sehr schlank, ein ehemaliges Frühchen. Und dann der berufliche Stress! Sie wisse was für ihren Sohn gut sei. Ja, sie gönne ihm eigentlich schon das Glück der Liebe, aber Liebe ginge ja auch durch den Magen und veganes Essen mache bestimmt nicht glücklich. Ja, die Sache mit dem Cholesterin sei ja auch völlig überbewertet, schließlich habe sie ihren Mann auch immer kulinarisch verwöhnt. Nun, dass er mit knapp sechzig an einem Herzinfarkt gestorben sei, ja das war sicher dem Stress als Chefarzt geschuldet. Ja, seit Generationen gäbe es Mediziner in der Familie und sie hoffe eigentlich noch auf einen Enkel, der die Reihe fortsetzen würde. Nur diese Victoria als Schwiegertochter, das müsse nicht sein, erhabe besseres verdient. –Nennt sie ihren Victor in Stunden der Zweisamkeit (nach Loriot) Pussy?-
Schön, dass ich sie kennengelernt habe. Ist es Zufall, Fügung? Ihr Victor alias Pussy muss nämlich mein heiliger Martin alias Stefan sein. Ihre Schilderung passt hundertprozentig, denn ich hatte noch häufiger medizinischen Kontakt mit Victor und konnte ihn besser kennenlernen. –
Nur was ist mit der Supermarktgeschichte? Taggeträumt? Ich muss Ernst fragen, er war ja schließlich dabei. Hoffentlich ist er nicht genervt von dieser „Fortsetzungsgeschichte“. Aber diesmal ist es bestimmt kein Tagtraum! Oder vielleicht doch? Wer weiß!

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