Der Gichtanfall - Barbara Kaul

Barbara Kaul - Malerei, Zeichnungen, Plastiken, Gedichte, Kurzgeschichten
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Der Gichtanfall


»Buona Sera meine Lieben, herzlich willkommen. Was möchtet Ihr trinken? Wie immer?« »Nein, für mich heute mal trockenen Weißwein und für dich sicher Apfelschorle oder Schatz?« »Ja, aber null-fünf!« Der Kellner Francesco schaute uns irritiert an. »Ernst, für dich dann aber wie immer eine große Pizza Salami?« »Für mich Salat Venezia. Ernesto für dich heute auch, oder?« »Ja, aber einen großen!«, antwortete dieser leicht gereizt. »Was ist los mit dir, mein Lieber. Bist du krank?«, wollte der Kellner verwirrt wissen, denn gewöhnlich isst Ernst immer nur Pizza Salami und trinkt immer trockenen Rotwein.
 
Krank! Das war das Stichwort für meinen lieben Ernst. Im San Remo nenne ich ihn immer Ernesto. Ernesto! Klingt das nicht wunderbar italienisch?  Nun erzählte dieser gern und sehr ausführlich, wie ihn ein Gichtanfall unvorbereitet getroffen hatte. Ein sehr schmerzhafter Anfall in seiner linken Großzehe sei es gewesen. Ich dachte, unvorbereitet? Bei seinem Konsum von gegrillten Würstchen, Nackensteaks, war das kein Wunder. Sein Arzt war schon länger der Meinung, dass er die erhöhte Harnsäure und den bedenklichen Cholesterinwert sehr ernst nehmen müsste. Doch Ernst, als großer Genießer bekannt, konnte den kulinarischen Genüssen nur schwer widerstehen. Jetzt aber war Verzicht angesagt: Auf Fleisch, tierische Fette, Alkohol etc. Diese Neuigkeit teilte er dem erstaunten Francesco mit. Kurz darauf erschien Leonardo mit den Getränken und wollte wissen, wie es um Ernst stehe. Er hätte erfahren, dass er nicht mehr der Alte sei. Also erzählte dieser bereitwillig nochmals seine Krankheitsgeschichte von A bis Z. Unser Essen wurde uns an diesem Abend persönlich vom Chefkoch Lorenzo serviert, da auch er von Ernsts Gichtanfall erfahren hatte. Ich ahnte Schlimmes, und es sollte eintreten. Abermals wurde ich Zeugin von Ernsts Erzählkunst. Lorenzo, ein sehr emotionaler Mann, untermalte sein Mitgefühl lautstark mit großen Gesten. Da sich die Kellner Francesco und Leonardo dazugesellt hatten, war ein richtiges Palaver entstanden. Als dieses beendet war, frohlockte ich: Endlich ist alles besprochen, jetzt bin ich erlöst! Doch ich hatte mich geirrt! Der Herr vom Nachbartisch wollte ebenfalls seinem Mitgefühl Ausdruck verleihen und die Geschichte vom Gichtanfall hören. Er erzählte, dass auch er vor Kurzem das Gleiche erlitten hätte, allerdings waren bei ihm beide Großzehen betroffen gewesen. Erneut berichtete Ernst von seinem Gichtanfall. Ich seufzte und dachte: Warum muss ich heute so leiden? »Francesco, für mich bitte einen großen Schoko-Eisbecher mit Sahne«, rief ich dem Kellner zu. Kurz unterbrach Ernst seinen Monolog: »Du bestellst einen großen Eisbecher mit Sahne? Um diese Uhrzeit?« »Ernesto, du musst jetzt auch mal kurz leiden. Ich musste es über Stunden«, erwiderte ich leicht gereizt. Betroffen schaute er mich an. Sollte er den Sachverhalt verstanden haben? Vom Eisbecher durfte er trotzdem mehrere Löffelchen probieren.
 
Auf der Heimfahrt wirkte mein lieber Ernst fröhlich, fast ein wenig euphorisch. Ich überlegte: Woran könnte das liegen? Am Interesse und Mitgefühl freundlicher Menschen? Am Eis probieren? Oder lag es am Salat Venezia?

Der Text wurde im Gemeindeblatt "Lahntal-aktuell" veröffentlicht



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