"Alles" kommt auf den Küchentisch - Barbara Kaul

Barbara Kaul - Malerei, Zeichnungen, Plastiken, Gedichte, Kurzgeschichten
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"Alles" kommt auf den Küchentisch


In unserer Familie kommt alles auf den Tisch. Meist auf den Küchentisch. Herzhaftes und Süßes, auch Heiteres, Lustiges, Trauriges, Kummer, Sorgen, Konflikte und manchmal auch die Lösungen. Manchmal geht es dabei ganz schön zur Sache. Meinem lieben Ernst und mir ist es wichtig, empathisch und wertschätzend miteinander umzugehen.

Zum Abendessen kommen wir fast immer vollzählig in unserer Küche zusammen. So auch heute. Unser Zweitältester brachte seinen Kummer, noch bevor er in sein wie immer mit reichlich Schinken belegtes Brot biss, zur Sprache: »Ich war heute viel zu mutig und habe mich zum Klassensprecher wählen lassen. Wie konnte ich nur so blöd sein! Gerade im Moment habe ich das Gefühl, der Aufgabe bestimmt, nicht gewachsen zu sein. Ehrlich gesagt: Ich habe Schiss, es nicht zu schaffen. Schuld sind meine Kumpels, die mich dazu überredet haben.« Sein Brot blieb weiterhin nicht angebissen liegen. Unser Großer ergriff das Wort: »Kleiner Bruder, stell dich doch nicht so mädchenhaft an. Ich war drei Jahre Schulsprecher, dagegen ist Klassensprecher doch echt nur ein Klacks.« Ich sah, dass unserem Mittleren die Tränen kamen: »Du bist ja auch so cool wie Papa, ich sensibel wie Mama. Was mache ich, wenn ich mich blamiere? Was wird die Mira dann von mir denken?«

Jetzt schaltete sich mein lieber Ernst ein: »Mira wird, wenn sie ein kluges, mitfühlendes Mädchen ist, denken: Toll, er ist mutig und sensibel zugleich. Man, und ich meine jetzt auch mich, kann durchaus beides sein. Mädchen und Frauen«, Ernst grinste mich an, »gefällt das sehr. Okay, Charaktereigenschaften können unterschiedlich  stark ausgeprägt sein. Du warst jedenfalls selbstbewusst genug, das Amt zu wollen. Jeder Mensch ist frei, du hättest die Wahl nicht annehmen müssen. Weißt du, es hat Vorteile sensibel zu sein. Du nimmst vieles sehr früh wahr, bist einfühlsam und kannst so Konflikten vorbeugen und gut vermitteln. Dazu ist keine große Klappe nötig. Gerade weil du so viele Bedenken hast, finde ich deine Entscheidung ganz besonders respektabel. Wenn einem etwas leichtfällt, ist es ja nicht besonders mutig, sondern eben nur ein Klacks. Habe ich nicht ein bisschen recht, mein Großer?«  Dieser schaute jetzt etwas betreten in die Runde. An Ernst gewandt sagte ich: »Schatz, ich kann mich allem, was du gesagt hast, anschließen. Kürzlich habe ich ein passendes Zitat gelesen: Sei mutig, sonst verpasst du das Leben und zu unserem Mittleren aufmunternd: »Du weißt, falls es holpern sollte, werden wir dich besonders liebhaben. Außerdem gibt es bei Kummer aller Art Schokopudding mit Schlagsahne, wie du weißt.» Daraufhin bemerkte mein lieber Mann, dass ihm dieser auch ohne Kummer zu haben, prima schmecken würde. »Übrigens Ernst, du hast recht, mir gefällt es sehr, dass du nicht immer souverän bist, sondern auch sensibel und empfindsam.« »Und mir, Schatz, gefällt es sehr, dass du weißt, dass auch ich haargenau diese Eigenschaften sehr an dir  liebe.« Jetzt schmunzelte er, streckte seine Brust heraus, straffte seine Schultern nach hinten und sagte dann: »Also, ihr stimmt mir doch sicher zu, dass ich mit Abstand der Coolste bin. Mich bringt nichts so schnell aus der Fassung.« Nun straffte sich auch unser Großer und mit einem Seitenblick Ernst im Visier habend sagte er zu mir: »Ach, übrigens Mama, ich habe gestern zufällig Daniel getroffen. Diesen gutaussehenden, sportlichen Typen mit vollem Haar, den du von deinen Koch-Workshops kennst. Ich glaube, er ist jünger als Papa. Er hat sich eingehend nach deinem Befinden erkundigt und lässt dich sehr, sehr herzlich grüßen.«
 
Alle Blicke waren jetzt auf Ernst gerichtet, zwischen dessen Augenbrauen sich prompt wie immer, wenn er sich ärgerte, eine steile Falte gebildet hatte. Sich räuspernd sagte er: »Daniel. Wenn ich diesen Namen schon höre, bekomme ich …« Grinsend vollendete unser Großer den Satz mit: »Pickel?« Unsere Kleine wollte nun irritiert von Ernst wissen: »Papi, wieso Pickel?«
 
Ernst fing jetzt an zu lachen und die Familie, bis auf unsere kleine Tochter, stimmte mit ein.


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